Ich möchte euch heute eine Geschichte erzählen. Eine sehr traurige Geschichte. Und das vermutlich traurigste daran ist, dass sie wirklich passiert ist. Vor zwei Jahren.
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Ich saß bei meiner Ansprechpartnerin der Wohnraumverwaltung des Studentenwerks, als ich das erste Mal von Lucia* hörte. "Übrigens, sie bekommen zum Monatsbeginn eine neue Mitbewohnerin", berichtete Frau Müller, "Lucia, eine spanische Studentin, die ihr Auslandssemester hier verbringt. Sie ist ein sehr kontaktfreudiger und geselliger Mensch. Leider ist sie auf einer Etage gelandet, auf der sich die Flurmitbewohner kaum füreinander interessierten. Keine Gemeinschaft, absolute Anonymität. Keine wirkliche Chance, die anderen Mitbewohner kennenzulernen. Außerdem spricht dort kaum einer Deutsch mit ihr. Und deswegen war sie ja schließlich hier, um ihre Deutschkenntnisse zu verbessern. Sie fühlt sich so unwohl, dass sie zu mir kam und mich um Rat fragte. Ich dachte da sofort an Ihren Flur. Uns ist bekannt, wie gut die Gemeinschaft bei Ihnen ist und da zufällig gerade ein Zimmer frei ist, wie Sie wissen, wird Lucia dort einziehen. Es wäre nett, wenn Sie sich ein wenig um das Mädchen kümmern könnten, damit sie schnell einen Anschluss findet.... Und: Deutsch reden, ganz wichtig!", fügte sie augenzwinkernd hinzu. Ich nickte und versicherte ihr, dass Lucia sich bei uns mit Sicherheit sehr wohl führen würde.
Leider war Frau Müller nicht mehr auf dem aktuellsten Stand. Die Gemeinschaft auf unserem Flur war bestimmt besser, als auf den meisten anderen, aber dennoch drohte sie einzuschlafen. Flurabende oder Partys waren eindeutig weniger geworden. Natürlich grüßte man sich noch oder quatschte ein wenig, wenn man sich auf dem Flur oder in der Küche begegnete. Aber lustige, gemeinsame Abende, die bis tief in die Nacht andauerten, gab es schon seit einiger Zeit nicht mehr.
Dann kam sie, unsere neue Mitbewohnerin. Unsere erste Begegnung hatten wir an der Eingangstür zu unserem Flur. Sie kam gemeinsam mit einem Freund, beide schwer bepackt, also hielt ich den beiden die Tür auf und begrüßte sie freundlich. Ein gezwungenes und flüchtiges "Hi!" war alles, was zurück kam. Das sollte also die nette, kontaktfreudige Neue sein, die extra zu uns zog, um Freunde zu finden? Ich war skeptisch, denn sie wirkte alles andere als freundlich.
Doch Lucia erwies sich als bestes Beispiel dafür, dass erste Eindrücke nicht immer gleich die richtigen sein müssen. Vermutlich war sie vom Umzug gestresst und genervt. Nachvollziehbar für jeden, der schon einmal umgezogen ist. Vielleicht hatte sie auch einfach so nur einen schlechten Tag.
In den folgenden Wochen zeigte Lucia ihr wahres Gesicht. Nämlich die Lucia, die mir Frau Müller vor ein paar Wochen beschrieben hatte.
Zwar wurden wir nie enge, vertraute Freunde, aber ich mochte sie sehr. Sie strahle immer diese Lebensfreude und eine bestimmte Leichtigkeit aus. Sie war immer freundlich, ging mit offenen Armen auf jeden zu und interessierte sich für ihre Mitbewohner. Kontaktfreudig? Definitiv! In der kurzen Zeit, die sie erst in Deutschland war, hatte sie bereits sehr schnell viele Freunde gefunden, wie man immer wieder auf lustigen und internationalen Partys bei uns im Gemeinschaftsraum sah.
Im Sommer 2010 war es dann soweit. Ihre Zeit in Deutschland neigte sich dem Ende zu. Zuhause in Spanien freuten sich ihre Familie und Freunde bereits sehr auf die Rückkehr, während ihre neuen Freunde in Deutschland dem Abschied traurig entgegen sahen. Denn Lucia war ohne Zweifel eine Person, die man hier sehr vermissen würde. Darum entschied sie sich mit ihren Freunden eine ganz besondere Abschlussparty zu feiern...
Ich war nicht auf dieser Party, denn das Wochenende verbrachte ich in der Heimat, weil mein Bruder Geburtstag hatte. Es war der 24. Juli 2010 und ich saß gerade mit meinem Bruder im Auto auf dem Rückweg vom Supermarkt, als im Radio von dem Unglück bei der Loveparade in Duisburg berichtet wurde. Von 10 Toten und vielen Verletzten war zu dem Zeitpunkt die Rede. Wir konnten nicht glauben, was wir da hörten. So wie ganz Deutschland und über die Grenzen hinaus verfolgten wir die Nachrichten über diese Tragödie mit großer Betroffenheit.
Am nächsten Tag machte ich es mir mit meinem Laptop auf der Couch bequem und erholte mich von der Reinfeier-Party meines Bruders, als mich ein Facebook-Eintrag einer Bekannten erstarren ließ. Sie schrieb, dass ganz Münster um zwei spanische Austauschstudentinnen trauere, die bei der Loveparade ums Leben gekommen waren. Einer der Namen war Lucia. Plötzlich fiel mir die Abschlussparty wieder ein. Sie wollten nach Duisburg! Das erste, was mir in dem Moment durch den Kopf ging, war: "Nein, unmöglich, das kann nicht sein!" Ich redete mir einen Zufall ein. Wie wahrscheinlich war es, dass es ausgerechnet "unsere" Lucia getroffen haben könnte? Dennoch kontaktierte ich meine Bekannte und fragte nach dem Nachnamen. Gleichzeitig meldete ich mich bei einer weiteren Mitbewohnerin. Ich fragte sie, ob sie schon welche der Loveparade-Gruppe auf dem Flur gesehen hätte und berichtete von dem Facebook-Eintrag. Niemand war zu erreichen. Also rief sie gleich bei diversen Sondernummern an, bei denen man sich erkundigen konnte, ob Angehörige zu den Opfern gehörten.
Ich erhielt den Nachnamen der besagten Lucia aus dem Facebook-Eintrag, aber gleichzeitig die Info, dass es noch nicht offiziell bestätigt sei. Chaos und Verwirrung machten sich in meine Kopf breit. Immer wieder "Das kann doch nicht sein!?".
Doch es konnte sein. Nach ein paar Stunden bekam meine Mitbewohnerin den bestätigenden Anruf. Es handelte sich tatsächlich um unsere Lucia.
*alle Namen geändert!
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Heute ist es zwei Jahre her. Was soll diese Geschichte nun? Daran erinnern, wie kurz ein Leben sein kann, wie ein "zur falschen Zeit am falschen Ort" das Ende bedeuten kann. Dass jeder Tag der letzte sein könnte und dass man sich diese Tatsache hin und wieder ins Gedächtnis rufen sollte, denn oft vergessen wir im Alltagsstress zu leben und dieses Leben zu genießen.
Außerdem wollte ich noch mal daran erinnern, dass es geschmacklos ist, Witze über die Loveparade zu reißen, egal ob generell oder in großen Menschenmassen.